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Dienstag, 24 Juli 2018

Kolumne: Der schmale Grat zwischen Lob und Perfektionismus

Über die Kunst der Anerkennung und wie das Kind Selbstvertrauen aufbauen kann

Frage

Wir sind die Eltern von zwei Buben im Alter von knapp drei und sechs Jahren. Der Grund, aus dem ich schreibe, ist unser älterer Sohn. Nach den Sommerferien wird er eingeschult. Obwohl er erst im November sechs Jahre alt wird, denken wir, dass er schon bereit dafür ist, mit einer Ausnahme: Oft reagiert unser Sohn sehr heftig. Ein Beispiel dafür ist das Bauen mit Lego. Hier verliert er die Geduld und zerstört seine Figuren, wenn etwas nicht so gelingt, wie er es sich vorstellt. Er fängt zu schreien an, wirft sich auf den Boden und lässt sich kaum beruhigen.

Wenn wir mit ihm das Alphabet üben, dann hört er zwar zu, aber will nichts sagen, weil er glaubt, es könnte etwas falsch sein.

Als Eltern haben wir versucht, darüber zu reflektieren, denn es ist uns wichtig, dass unsere Kinder in Liebe und Fürsorge aufwachsen und Unterstützung von uns bekommen, wenn sie diese brauchen. Wir versuchen seit einiger Zeit, unseren Sohn zu motivieren, wenn er aus Frust schreit, und sagen ihm, dass er ja in vielen Dingen supergut ist, die wir dann aufzählen, z.B. Radfahren oder Zeichnen.

Als Mutter bin ich eher diejenige, die oft sagt: "Sei vorsichtig" oder "Ich mach das für dich". Ich habe Angst, dass unser Sohn einmal in Schwierigkeiten gerät, sich mit anderen schlägt und so weiter.

Mittlerweile habe ich das Gefühl, dass wir sein Selbstwertgefühl und Selbstvertrauen nicht aufgebaut haben, sondern eher das Gegenteil.

Wir leben mit dem Schuldgefühl, nicht genug getan zu haben. Daher unsere dringende Frage: Ist es zu spät? Können wir die innere Stärke und das Selbstwertgefühl wieder aufbauen? Gibt es eine Strategie, die wir berücksichtigen sollen?

 

Antwort

Ich möchte mit einer kleinen privaten Erinnerung beginnen: Mein Sohn hat mit 13 Jahren aufgehört, in der Schule Aufsätze zu schreiben. Er sagte: "Ich kann einfach nicht." Meine Frau und ich haben uns damals gefragt, was wohl der Grund sein könnte, und plötzlich wurde uns Folgendes klar: Seit seiner Kindheit hörte unser Sohn von mir, dass ich mich einfach hinsetze, schreibe und ich in kurzer Zeit damit fertig bin. In seinem Verständnis war es so, dass sich jemand einfach hinsetzt und die Worte über das Papier fegt. Sobald klar für ihn war, dass dieser Anspruch nicht auch für ihn galt, ging es bald ohne größere Probleme.

Ich kann mir als Ursache für Ihren älteren Sohn vorstellen, dass er von ein oder zwei perfektionistischen Eltern kritisiert wird. In diesem Fall bin ich geneigt, mit Ihnen übereinzustimmen, dass viel Lob eine Ursache für Perfektionismus sein kann, aus der sich auch eine gewisse Abhängigkeit von Lob ableitet.

Ihre Diagnose kann stimmen, wenn Sie Ihre Liebeserklärungen für ihn bislang in Lob verpackt haben.

Das gibt einem Kind zwei Möglichkeiten: Entweder ist es, um so viel Liebe (in dieser Form) wie möglich zu erhalten, "gut" oder das Gegenteil.

Es ist keine bewusste Entscheidung, die Kinder hier treffen, dennoch eine Wahl, die ihre Persönlichkeitsentwicklung (oder Überlebensstrategie) prägt. Normalerweise gehen wir davon aus, dass viel Lob für gute Leistung das Selbstvertrauen der Menschen steigert. Das passiert bis zu dem Punkt, an dem Perfektionismus oder Lampenfieber übernehmen. Das Problem für viele Kinder und deren Eltern ist nicht, dass sie Lob für lobenswerte Leistung erhalten, sondern dass wir es als Eltern in einer etwas monotonen Art zu sagen pflegen – und das hebt ein ehrliches "Ich liebe dich" nicht auf.

Drei Dinge, die das Blatt wenden

Sie fragen, ob es zu spät ist. Die Antwort ist Nein. Es braucht drei Dinge, um das Blatt zu wenden. Beginnen Sie mit einem ernsten Gespräch mit Ihren beiden Buben und sagen Sie in etwa Folgendes: "Wir haben immer geglaubt, dass wir euch am besten anspornen, indem wir euch loben. Jetzt haben wir entdeckt, dass wir uns getäuscht haben." An Ihren älteren Sohn gewandt: "Du hast uns gezeigt, dass es dich frustriert und ärgert, wenn dir etwas nicht gelingt! Wir danken dir dafür. In Zukunft werden wir versuchen, dich weniger zu loben. Du sollst wissen, dass wir dich lieben, egal wie talentiert du bist. Das wird am Anfang etwas schwierig für uns sein, aber wir werden uns bemühen."

Der zweite Schritt ist die Kunst der Anerkennung. Hier brauchen Sie vielleicht etwas Hilfe, um zu sehen, wie Sie diese in die richtigen Worte packen. Wenn ihr Sohn sich ärgert, umarmen Sie ihn und sagen: "Ich weiß, dass du dich jetzt ärgerst. Aber es ist nicht wichtig, dass dir jetzt etwas gelingt. Ich liebe dich trotzdem!"

Der Erfolg ist nicht das Wichtigste für Ihren Sohn. Das wirklich Wichtige ist das Bedürfnis, sich als wertvoll im Leben seiner Eltern zu fühlen, und zwar genau so, wie er ist. Denken Sie darüber nach, wie er Ihr Leben bereichert, und sagen Sie es ihm gelegentlich. Auf diese Weise ändert sich seine Erfahrung, wie er Sie glücklich machen kann, ohne immer "clever" zu sein. Und bleiben Sie dabei geduldig, denn das wird ein paar Jahre dauern.

Machen Sie auf keinen Fall ein Projekt aus diesem Vorhaben und Ihren Sohn nicht zu Ihrem Lieblingspatienten, um Ihr eigenes schlechtes Gewissen und Ihre Schuld zu verringern.

Sie haben getan, was Sie tun konnten, und tragen die Verantwortung dafür, die Dinge langsam zu verändern, das befreit Sie von Ihrer Schuld.

Die Änderung Ihres Verhaltens darf auch nicht zu einem Wettbewerb werden, sondern ein konstruktiver Beitrag zur Entwicklung des Selbstwertgefühls Ihres Sohnes. Kindererziehung sollte nie ein Leistungssport sein! Es ist ein gemeinsamer Entwicklungsprozess, in dem beide Parteien von ihren Fehlern lernen, um sich so als wertvoll im Leben des jeweils anderen zu fühlen. (Jesper Juul, 2.8.2015)

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