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Samstag, 12 April 2014

Konflikte zwischen Kindern

Artikel

von Jesper Juul

Ich stoße oft auf die Frage „Wie soll man in Konflikte zwischen Kindern eingreifen?“, von Seiten der Eltern, die entweder unsicher sind, oder die schlechte Erfahrungen mit einer bestimmten Vorgehensweise gemacht haben. Die Antwort auf diese Frage hängt natürlich von einer Vielzahl von Faktoren ab: Welche Kinder? Das Motiv des Erwachsenen für das Eingreifen? Das Alter der Kinder? Worum dreht sich der Konflikt? Usw. Das Folgende ist deshalb keine konkrete Antwort, oder eine Gebrauchsanweisung, aber eine Reihe von Überlegungen, die hoffentlich inspirierend wirken können, wenn der Leser seine eigenen Antworten finden muss.

Was ist ein Konflikt?

Ein Zusammenleben oder eine Zusammenarbeit mit anderen Menschen –egal welchen Alters- ist ohne Konflikte nicht möglich. Das Einzige, das wir uns aussuchen können, ist, wie wir uns ihnen gegenüber verhalten wollen, wenn diese aufkommen. Einige Menschen sind in Familien aufgewachsen, in denen alle Konflikte unter den Teppich gekehrt wurden, und kümmern sich deswegen zum Teil nicht um Konflikte; deshalb fehlt ihnen die Praxis, an ihnen zu arbeiten.

Andere kommen aus Familien, in denen es ständig Kämpfe und Konflikte gab, die jene unglücklich machten, weil sie nie gelöst wurden. Diese Menschen sind oft geneigt, Konflikte in ihrer eigenen Familie zu unterdrücken, wenn sie erwachsen werden und selbst Kinder bekommen, weil Konflikte für sie dasselbe wie einen Unglücksfall darstellen.

Viele von uns, die heutzutage Kinder haben, sind in einer Zeit aufgewachsen, in denen Erwachsene mit edler Gesinnung der Meinung waren, dass Konflikte vor Kindern verborgen werden müssen. Andere sind in einer Generation aufgewachsen, in welcher Konflikte oft zur Scheidung der Eltern führten: Beide Parteien haben deshalb ein etwas gespaltenes Verhältnis zu Konflikten innerhalb ihrer Familie.

Ein Konflikt entsteht, wenn zwei Menschen gegensätzliche, oder manchmal bloß verschiedene Bedürfnisse oder Gelüste haben: Und weil nicht alle Menschen gleich sind, bedeutet das, dass wir an jedem einzelnen Tag Konflikte erleben. Hinzu kommt, dass wir nicht selten auch im Konflikt mit uns selbst stehen; ein Teil von uns will das Eine und ein anderer Teil will etwas Anderes.

Wenn wir ein Bedürfnis verspüren, kann der nachfolgende Prozess auf zwei unterschiedliche Weisen verlaufen:

1) Bedürfnis- Befriedigung (dieses Bedürfnisses)- Ruhe Wir verspüren ein Bedürfnis, wie z.B. Hunger, woraufhin wir etwas essen und somit satt werden.

2) Bedürfnis- Frustration- Kampf- Trauer- Ruhe. Wir verspüren ein Bedürfnis, wie z.B. Nähe; der Andere steht nicht zur Verfügung, und wir werden frustriert und versuchen in Kontakt zu kommen, aber werden abgewiesen; wir werden deswegen traurig, weinen und beruhigen uns wieder.

Missverstandene Fürsorge

Der erste Verlauf stellt unsere gemeinsame „paradiesische“ Vorstellung dar. Dem zweiten Verlauf begegnen wir oft im irdischen Alltag. Konzentrieren wir uns also ein wenig auf die beiden Elemente „Kampf“und „Trauer“:

Wenn wir ein Bedürfnis verspüren, wie z. B. „Ich möchte gerne, dass du dein Buch weglegst und dich ein wenig für das interessierst, das ich mit dir teilen möchte“, ist der erste Schritt (und für viele Erwachsene auch der schwerste), seinem Bedürfnis Ausdruck zu verleihen. Viele von uns sind in Familien aufgewachsen, in denen es als verkehrt oder egoistisch angesehen wurde, einfach zu sagen, was wir gerne bekommen möchten. Daraus resultiert, dass wir Erwachsenen oft unmittelbar zur Frustration übergehen: „Musst du immer lesen?“, „Wieso sagst du nie etwas?“, „Du interessierst dich nie für mich!“ usw..

Aber obwohl wir nun unser Bedürfnis ausdrücken, können wir trotzdem ständig riskieren, dass der Andere mit einem „Ich habe jetzt gerade keine Zeit“, „Ich habe jetzt keine Lust mich mit dir zu unterhalten, kann das nicht bis morgen warten?“, oder vielleicht bloß mit einem halbgequälten „Was ist denn jetzt?!“ antwortet.

Wenn dies geschieht, beginnt der Kampf oder die Verhandlung – wie man eigentlich sagen müsste – weil es gerade kein Kampf im Sinne von Krieg ist, der hier gemeint ist.

Aber selbst ein sehr geschickt Verhandelnder kann verlieren, (dies ist oft die kindliche Situation im Verhältnis zu den Erwachsenen: „Darf ich ein Eis haben?“, „Darf ich nicht ein bisschen länger aufbleiben?“). Manchmal sind unsere Bedürfnisse so verschieden, dass wir uns gar nicht einigen können, und wenn dies geschieht, gibt es in der Wirklichkeit nur eines zu tun: nämlich über die Niederlage zu weinen.

Trauer ist das Einzige, das unsere innere Balance wieder aufrichten und somit die innere Ruhe wiederherstellen kann. Nicht zu bekommen, was wir uns am meisten wünschen, stellt gewissermaßen eine traurige Niederlage dar. Es kann sich dabei um ein nicht besonders wichtiges Bedürfnis handeln, wobei die Trauer deswegen nur als kleine Enttäuschung wahrgenommen wird, oder aber das Bedürfnis kann so lebensnotwendig sein, dass die Trauer sich überwältigend anfühlt.

Als Kinder hatten viele von uns nicht die Möglichkeit, die „große“, „mittelgroße“ oder „kleine“ Trauer zu verarbeiten. Die Erwachsenen unterbrachen uns mit ihrem: „Jetzt musst du aber lieb (umgänglich, vernünftig, groß) sein!“, „Hör auf dich anzustellen!“, oder „Lass mich mit einem solchen Unsinn zufrieden!“

Wir mussten unseren Kummer hinunterschlucken und in der Frustration verbleiben. Wir ordneten uns unter, und nach einem sieben- bis achtjährigen Training konnten wir eine vernünftige, liebe, umgängliche oder erwachsene Maske tragen, und unsere Eltern konnten sich gegenseitig damit beglückwünschen, dass wir auf jeden Fall „anscheinend“ harmonisch (und nicht lästig) geworden waren.

Eines der Resultate aus dieser missverstandenen Fürsorge ist, dass viele Erwachsene ein Gespür für die Trauer verloren haben. Sie bemerken einzig die Frustration und reagieren deswegen mit lautem Rufen, Ausschimpfen, Vorwürfen und Schlägen, wenn sie nicht das bekommen können, was sie vermissen. Dies verwehrt ihnen selbstverständlich das zu bekommen, was sie haben möchten, aber hinterlässt sie oft unbefriedigt, selbst wenn deren Umgebung versucht, ihren Ansprüchen gerecht zu werden.

Der kulturelle Faktor

Es gibt außerdem einen kulturellen Faktor außerhalb der psychologischen Mechanismen. Hier in Skandinavien bedeutet dies, dass die Anzeichen für einen Konflikt oft Schweigsamkeit oder Abstand sind, ganz im Gegensatz zur südlichen Kultur, in welcher Konflikte regelmäßig von Rufen, Schreien und erhöhter körperlicher Aktivität ausgehen.

Wenn man in Skandinavien aufwächst, bedeutet das, dass man als Kind oft den Konflikt spürt, aber dessen genauen Inhalt nicht zu entschlüsseln vermag. Kinder in unserer Kultur kommen deswegen oft zu dem Schluss, dass sie diejenigen sind, mit denen etwas nicht in Ordnung ist, aber auf einer sonderbar diffusen Art und Weise.

Das bedeutet nicht, dass Rufe und Schreie die bessere Lösung sind; sie stellen bloß eine andere Umgangsweise dar, und diese schafft eine andere Konfliktbereitschaft unter den Kindern, wenn diese erwachsen werden.

Obwohl diese charakteristischen Verhaltensweisen recht typisch für die nördlichen und südlichen Himmelsrichtungen sind, bedeutet dies nicht, dass sie angeboren sind- ganz im Gegenteil: sie sind angelernt. Wir erlernen sie in unserer Familie. Kinder wurden mit jener Konfliktbereitschaft geboren, wie sie in Punkt 1) und 2) früher in diesem Kapitel skizziert wurde, allerdings ohne dem wichtigsten Verhandlungswerkzeug, welches die Sprache ist ,und ohne die Fähigkeit von ihr Gebrauch zu machen, um sich damit selbst auszudrücken.

Gleichwie auf den meisten anderen Gebieten frühkindlicher Entwicklung, in denen sie mit der Ausbildung der Grobmotorik (große Bewegungen in den großen Muskeln) beginnen, und mit der Ausbildung der Feinmotorik (kleine Bewegungen in den kleinen Muskeln, wie z.B. in den Stimmbändern) abschließen, beginnen sie ebenfalls damit, Frustrationen und Konflikte sozusagen mit „Armenund Beinen“ auszudrücken.

Wenn es um die Verarbeitung von Konflikten mit Hilfe von Sprache (Feinmotorik) geht, lernen Kinder fast ausschließlich anhand von Beispielen, d.h. von ihren Eltern, deren Vorgehensweise sie nachahmen. Und das gilt sowohl hier als auch in allen anderen Beziehungen: die Kinder lernen von der Vorgehensweise, auf die wir die Dinge angehen; nicht auf die Art und Weise, die wir ihnen vorschreiben, wie sie sie handhaben sollen.

Sobald wenn die Kinder fünf-sechs Jahre alt geworden sind, handeln sie, wie wir handeln, und weil niemand von uns perfekt ist, sind die Kinder es auch nicht.

Erwachsene können von Kindern lernen

Selbst wenn kleinere Kinder oft von „Armen und Beinen“ Gebrauch machen, wenn sie sich in einem Konflikt befinden, können die meisten von uns etwas von der Selbstverständlichkeit lernen, mit der sie ihre Bedürfnisse ausdrücken. Vielen Ehen und Beziehungen zwischen Kindern und Erwachsenen würde es bedeutend besser bekommen, wenn alle Parteien die grundlegenden Sätze in der persönlichen Sprache verwenden würden: „Ich will“, „Ich will nicht“, „Ich kann (es) leiden“, „Ich kann (es) nicht leiden“, „Ich will haben“, bzw. „Ich will nicht haben“.

Gleichzeitig haben Kinder in diesem Alter sich die Fähigkeit bewahrt, die richtige Tonlage zu den Worten hinzuzufügen. Sie rufen, wenn sie frustriert sind, weinen, wenn sie deswegen traurig sind, bzw. schimpfen, wenn sie zornig sind. Viele der Erwachsenen haben diese beiden wertvollen Eigenschaften verloren- zum großen Nachteil für ihre Lebensqualität.

Die Kinder können von uns lernen, wie man die Sprache zum Bearbeiten von Konflikten benützt, was nicht mit einem „vernünftig über die Dinge sprechen“, oder einem „beruhige dich“, oder einem „sei jetzt logisch“ verwechselt werden darf. Der Mensch ist kein rationales Wesen; vor allem dann nicht, wenn wir uns in einem Konflikt mit uns selbst oder miteinander befinden.

Die Kinder können von unserem Beispiel lernen. Wie gehen Vater und Mutter vor, wenn sie sich in einem Konflikt miteinander befinden? Wie handeln Vater und Mutter, wenn sie sich im Konflikt mit uns befinden? Die Kinder sind wie immer der Spiegel, in dem wir uns selbst am deutlichsten sehen, und sie sind, wie immer, eine Inspirationsquelle, um unsere eigene Funktionsweise zu beobachten und diese zu verbessern.

Als Erwachsene können wir Kinder Lesen, Schreiben und Rechnen lehren. Wir können ihnen beibringen, nicht über eine rote Ampel zu gehen und ihnen ähnliche praktische und notwendige Fertigkeiten vermitteln. Aber was die wirklich wichtigen Dinge im Leben betrifft, sind es oft die Kinder, die uns am meisten beibringen können, obwohl sie dazu „verurteilt“ sind, uns nachzuahmen.

Wie man eingreift

Es ist relativ einfach, Anweisungen dafür zu geben, wie man in einen Konflikt eingreift. Man sollte persönlich und wohlüberlegt vorgehen, und man sollte es unterlassen zu kritisieren oder Partei zu ergreifen.

Überlege dir zuerst, warum du in den Konflikt der Kinder eingreifen willst. Ist es, weil du Konflikte hasst und einen Mangel an Konflikten mit Harmonie und Glück verwechselst?

Falls es das ist, warte einen Augenblick! Ist es, weil der Konflikt zu destruktiv, zu verbissen ist? Falls es das ist, warte dennoch etwas, und sage dann: „Aufhören!“, „Stopp!“, und rufe es gerne so hoch und so innig aus, wie du den Drang danach verspürst! Das soll bloß effektiv sein. Keine halbherzigen Bemerkungen im Stil von: „Wollt ihr jetzt nicht einmal aufhören. Ich kann das bald nicht mehr aushalten“ (jammernd); „Ihr seid auch ganz unmöglich- alle beide. Könnt ihr nicht hören, was man euch sagt?“ (anklagend). „Nein, jetzt musst du also Rücksicht darauf nehmen, dass er trotz alledem der Kleine ist!“ (kritisierend).

„Was stimmt denn nicht mit euch und warum könnt ihr nicht ruhig und in Frieden miteinander spielen?“ (machtlos). Wenn der Konflikt gestoppt ist, kann man den Kindern dabei behilflich sein, die richtigen Worte zu finden, d.h. die Worte, die hinter „Scheißkerl“, „Idiot“ usw. stecken.

• Beginne damit, beiden Parteien folgende Fragen zu stellen:

„Was ist es, das du gerne haben möchtest?“

• Höre die Antworten sorgfältig an, und verzichte darauf, diese zu werten!

• Überprüfe, ob die Kinder jeweils die Antwort des anderen gehört haben und bitte sie evtl. darum, das Ergebnis der Antworten gegenseitig zu wiederholen.

• Bitte den Initiator zu untersuchen, ob das, was er bekommen möchte, möglich ist. Falls es nicht möglich ist, bitte ihn, seine Reaktion darauf auszudrücken! Dasselbe gilt, falls es möglich ist das zu bekommen, was er möchte.

• Vermeide es, den Kindern für ihre Mithilfe zu danken!

• Beachte stets, dass der Erwachsene lediglich Vermittler und nicht Richter ist!

Wenn dieser Vorgang abgeschlossen wurde, ist die Aufgabe des Erwachsenen zu Ende. Die Kinder sind sich nun mehr selbst und einander bewusst geworden und, ehe sie acht bis zehn Jahre alt geworden sind, sollten sie dies gelehrt bekommen haben.

Falls du mit dieser Praxis erst anfängst, wenn die Kinder groß sind, benötigt es nicht so viel Zeit, aber rechne nicht damit, dass die Konflikte aufhören, bevor ein Jahr oder noch mehr Zeit vergangen ist!

Es gibt keinen Grund moralisierend zu werden oder Schuld zuzuweisen. Dies baut -ganz im Gegenteil- auch noch einen neuen Konflikt in den Kindern selbst, oder zwischen ihnen auf und bremst somit ihr Erlernen.

In manchen Familien gibt es sehr häufige Konflikte zwischen Kindern; es scheint, als ob selbst der kleinste Zwischenfall einen Anlass zum Streit liefert. Sollte dies der Fall sein, zahlt es sich aus, die Familie zusammen zu rufen und ein gründliches Gespräch darüber zu führen was „es“ ist, das zur Zeit in der Familie liegt und vor sich hin schwelt.

Es gibt drei Orte, an denen man suchen kann: Zwischen den Erwachsenen und den Kindern, zwischen den Erwachsenen untereinander, oder zwischen den Kindern. Die Ursache für ein anhaltend hohes Konfliktniveau findet sich selten bei den Kindern.

Letztlich sind wir als Eltern oft von einem unbändigen Drang besessen uns nützlich zu machen, um zu erziehen, um von uns zu lernen. Oft geschieht all die Aktivität mehr unseretwegen als der Kinder wegen.

Falls du es nicht ertragen kannst, wenn die Kinder Konflikte haben,versuche, die Szenerie zu verlassen. Schließ die Tür, geh in einen anderen Raum, geh spazieren! In vielen Fällen lernen die Kinder schneller und besser, je weniger wir uns einmischen

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