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Montag, 23 Juli 2018

Kolumne: Kinder mit ADHS: Hilft Ritalin oder Routine?

ADHS ist eine Diagnose, die die Entwicklung des Kindes vorhersehbarer macht. Was Eltern tun können, um dem Nachwuchs und sich das Leben zu erleichtern

Frage

Ich bin Mutter von drei Buben, einer ist acht Jahre alt, die Zwillingsbrüder sind fünf Jahre. Beim Älteren wurde mit sechs Jahren ADHS diagnostiziert. Ich weiß, Sie stehen dem sehr kritisch gegenüber, wenn "Kinder in eine Schublade" gesteckt werden – aber für uns war es damals die Rettung. Wir haben nie verstanden, warum wir so sehr kämpfen, warum unser Sohn kaum geschlafen und gegessen hat, was er brauchte und wie er seine Grundbedürfnisse ausdrücken konnte. Das führte zu viel Frustration. Ich will nicht ins Detail gehen, aber es war fast so weit, dass wir das Vertrauen als Eltern verloren haben und unsere Beziehung sehr darunter gelitten hat.

Seit der Diagnose bekommen wir mehr Verständnis und Unterstützung seitens der Schule. Seit unser Sohn Ritalin nimmt, hat sich auch vieles sehr verbessert. Viele Jahre großer Sorge verwandeln sich jetzt in Glück. Wir beobachten, wie er sich immer mehr entfaltet, neue Freundschaften schließt und es in der Schule gut läuft. Für uns ist es jetzt einfacher, in schwierigen Situationen ruhig zu bleiben.

Wir fühlen uns als Familie stärker und haben mehr Freude miteinander. Trotzdem ist unser Älterer immer noch sehr anspruchsvoll. Bei den jüngeren Brüdern ist Duschen, Essen oder Schlafengehen überhaupt kein Problem. Mit dem Großen ist es immer ein Kampf. Übernachtungen bei Freunden sind nicht möglich, weil es ihm schwerfällt, dort zu schlafen. Es ist in Summe immer noch anstrengend, aber wir leben damit. Es gibt auch Positives: Er ist sehr begeisterungsfähig und interessiert sich für fast alles. Er hat auch oft gute Laune – wobei sich das auch schnell ändern kann.

Haben Sie Anregungen für Eltern mit sogenannten "unkontrollierten Kindern", die uns den Tag erleichtern können? Wir Eltern versuchen wirklich, unser Familienleben ohne zu viele Schwierigkeiten zu gestalten, aber dies könnte die Fähigkeit meines Sohnes, sich um sich selbst zu kümmern, beeinträchtigen. Ich denke daran, dass er oft keine Jacke trägt, wenn es kalt ist, oder er in der Schule seine Jause nicht isst. Ich möchte, dass er sich an andere Erwachsene und Kinder anpassen lernt, damit er einen guten harmonischen Tag erlebt.

Es ist ein sehr schwieriger Balanceakt, der ohne Routine in Unberechenbarkeit und Chaos endet, wenn mein Sohn sich ungerecht behandelt fühlt oder wütend und frustriert ist. Wir haben auch das Gefühl, dass wir zu viel schimpfen. Bei drei Buben wird es oft etwas wild, und das macht ein gemütliches Abendessen fast unmöglich. Obwohl wir uns nicht mit kleinen Dingen aufhalten, zum Beispiel wie die Kinder essen, ist es trotzdem kaum möglich, alle für ein paar ruhige Minuten an den Tisch zu bekommen. Es fühlt sich dann an, als würden wir mitten in einem Hurrikan leben. Wir fragen uns manchmal, ob das denn normal ist und ob andere die gleichen Herausforderungen erleben. Was ist Ihre Erfahrung?

Zum Schluss möchte ich auch betonen, wie wichtig es ist, dass Therapeuten, Kindergärten und Schulen andere Eltern und Familien mit ähnlichen Herausforderungen unterstützen. So können Betroffene erkennen, dass sie nicht allein mit ihrem Problem sind. Und nur so kann bei diesen anspruchsvollen, wunderbaren und einzigartigen Kindern ein unverdientes und schweres Schicksal verhindert werden. Die Eltern von diesen Kindern werden nämlich oft eher gestraft als verstanden und unterstützt.

Antwort:

Vielen Dank für Ihre sehr feine und präzise Beschreibung, wie es Eltern eines Kindes mit dieser umstrittenen Diagnose geht. Sie schreiben sehr wenig darüber, wie sich Ihre tägliche Beziehung zu Ihrem Sohn gestaltet, was Sie machen, was Sie genau sagen. Deshalb erlaube ich mir, etwas näher darauf einzugehen.

Ich rate Ihnen zu einer Mischung Ihres eigenen und eines etwas professionelleren erzieherischen Stils, von dem Sie sich aber nicht einengen lassen sollten. Wenn Sie sich auf Ihr Kind einlassen, gewinnen Sie etwas mehr Flexibilität im Umgang mit Konflikten. Und Ihr Sohn gewinnt mehr Beständigkeit in Bezug auf Vorhersehbarkeit und Klarheit Ihres Handelns.

Diese Mischung ist nicht einfach zu bewerkstelligen. Sobald professionelle Strategien überwiegen, wird es nämlich für beide Seiten zusätzlich anstrengend. Das liegt daran, dass Sie eher distanziert und "cooler" werden, was sowohl für Sie als auch für Ihren Sohn Auswirkungen hat. Es ist schwer für die Eltern, aber oft noch viel schwerer für das Kind, bevor es eine Diagnose gibt. Beide erleben ein extremes und unangenehmes Chaos, das beim Versuch des Erziehens, Grenzensetzens, Kritikübens und Korrigierens entsteht. Deshalb sehnen sie sich nach Wärme, Anerkennung, Harmonie und unaufdringlicher Nähe.

Die Diagnose war, wie ich es verstehe, für Sie und Ihren Sohn eine Erleichterung. Ich schließe daraus, dass auch Ihr Sohn eine Art "Krankheitsbewusstsein" hat. Das heißt, dass er weiß, wann er einen schlechten oder einen guten Tag hat. Er merkt quasi, wenn es er ist, der ADHS hat – und wenn ADHS ihn hat. Ihr Sohn ist acht Jahre alt, also gibt es Grenzen in seiner Selbsterkenntnis und seiner Fähigkeit, sich selbst zu kontrollieren, dennoch ist es nicht zu früh, mit ihm diese Selbsterkenntnis zu üben. Sie könnten ihn beispielsweise fragen: "Fühlst du gerade, was mit dir los ist?"

Sie könnten auch Folgendes zu ihm sagen: "Wir möchten heute ein ruhiges und glückliches Abendessen, und du bist dazu herzlich eingeladen. Kannst du uns einen Gefallen tun und dich selbst fragen, wie es dir geht, bevor du dich zu uns setzt? Wenn es dir nicht gutgeht, kannst du in deinem Zimmer essen oder viermal ums Haus laufen oder dich draußen austoben und danach zu uns kommen." Nach ein paar Jahren wird er zum Tisch kommen und sagen: "Ich bin nicht in der Stimmung und möchte in meinem Zimmer essen." Das ist das Ergebnis, wenn er ein Gefühl dafür entwickelt, wie es ihm geht. Wie lange dieser Prozess der Selbsterkenntnis dauert, ist von Mensch zu Mensch unterschiedlich.

Mancher mag glauben, dass sich das wie eine Strafe für das Kind anfühlt, aber es würde sich für ihn nur als Strafe anfühlen, wenn es so gemeint ist. Diese Kinder merken ständig, welche Last sie für ihre Eltern und Geschwister sind. Wir wissen das aus Gesprächen mit 15- bis 20-Jährigen, die sich mit großem Schmerz an das schlechte Gewissen und die Schuld erinnern, die sie ihrer Familie gegenüber empfanden, weil sie anders sind.

Kinder mit der Diagnose ADHS sind oft nicht in der Lage, Empathie so zu zeigen, wie sie es möchten – aber das bedeutet nicht, dass sie Empathie nicht empfinden oder über ihr Handeln nicht nachdenken. Ritalin kann Kindern die Fähigkeit zur Empathie nehmen. Das passiert aber sehr selten. Sollten Sie das trotzdem bei Ihrem Kind bemerken, so ist es wichtig zu wissen, dass es auch andere Medikamente gibt.

Um als Eltern und Geschwister von Kindern mit ADHS für seine eigene Lebensqualität zu sorgen, ist es notwendig, so direkt, persönlich und authentisch wie möglich miteinander umzugehen. Ich lege Ihnen als Paar nahe, sich Zeit füreinander zu nehmen, Ruhepausen einzulegen und regelmäßig mit den Zwillingen darüber zu sprechen, wie es ihnen geht und was sie tun können, um gut mit ihrem großen Bruder auszukommen. Es hat keinen Sinn, die Situation schönzureden, denn sie ist eine große Belastung. Je besser die Erwachsenen für sich und einander sorgen, umso besser wird es der Familie gehen.

Aus meiner Erfahrung gibt es auch in anderen Familien Kinder, die über eine sehr feine Chemie verfügen und sehr "speziell" sind. Wenn das Kind heftig protestiert, dann müssen sich die Eltern eingestehen, dass es Zeit ist, sich einen Abend oder ein Wochenende zu gönnen, an dem sie an sich selbst denken. Das mag sich etwas streng anhören, aber so ist es. ADHS ist eine Diagnose, die die Entwicklung des Kindes vorhersehbarer macht. Die Welt kann also in drei bis fünf Jahren ganz anders, positiver, aussehen und hängt auch sehr vom optimalem Zusammenspiel in der Familie ab. Das bedeutet nicht, dass die Diagnose sich dadurch in Luft auflöst. Aber es bedeutet, dass ein unangemessener Umgang mit der belastenden Situation diese stagnieren lässt oder gar verschlechtert.

Lassen Sie mich am Ende dieser Antwort die Leserinnen und Leser in derselben Situation anregen, sich an der Diskussion zu beteiligen und dabei Ihre guten und konstruktiven Erfahrungen miteinander zu teilen. (Jesper Juul, 27.3.2016)

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