Donnerstag, 26 Juli 2018

Kolumne: Eine Mutter zwischen Tyrannei und falscher Fürsorge

Wie es gelingt, ein Leben als Opfer hinter sich zu lassen und Verantwortung für das eigene Leben zu übernehmen

Frage:

Ich bin eine 25-jährige Frau und versuche meine Geschichte so kurz wie möglich zu halten. Die Beziehung zu meiner 62-jährigen Mutter ist sehr anspruchsvoll und schwierig.

Im Grunde bin ich erfolgreich, mit einer guten Ausbildung, einer wunderbaren Arbeit, unterstützenden Freunden und sportlich aktiv. Kurz gesagt fühle ich mich in allen Belangen sehr wohl, außer in meiner Beziehung zu meiner Mutter.

Eigentlich weiß ich gar nicht, wo ich anfangen soll, denn die Situation ist seit vielen Jahren unverändert, wobei es seit diesem Sommer noch anstrengender ist. Ich habe das Gefühl, dass meine Mutter sowohl mich als auch mein Leben kontrollieren will. Sie ist sehr beschützerisch, hat die Tendenz, mich zu erdrücken, und meint dabei immer, dass sie dies nur mit den besten Absichten tut, weil sie sich um mich sorgt.

Das kann ich ja verstehen, aber es müssen nicht endlos viele Anrufe und Textnachrichten sein, wobei von zehn bestimmt neun nur Erinnerungen von praktischem Belang sind, wie zum Beispiel die Miete zu bezahlen oder meine Steuererklärung zu machen.

Im eigenen Universum

Für mich scheint es, als ob sie in ihrem eigenen Universum lebt, sich Sorgen macht und glaubt, dass ich meine Angelegenheiten vergessen könnte. Das hat sich seit meiner Kindheit nicht geändert, zog sich wie ein roter Faden durch die Pubertät und ist (auch peinlich) präsent während meiner vier Jahre Studium in einem anderen Bundesland.

Schließlich bin ich erwachsen und brauche niemanden, der auf mich aufpasst! Meine Mutter ist eine sehr fordernde Person. Sie sagt uneingeschränkt, was sie denkt und vor allem auch, was sie über mich, meinen Bruder und meinen Vater denkt. Sie vertritt den Standpunkt, dass sie in ihrem Haus alles aussprechen kann, ohne darüber nachzudenken, was das mit uns macht.

Ich hätte so gerne, dass sie endlich begreift, dass ich mein Leben mit meinen Entscheidungen und Wahlmöglichkeiten lebe. Außerdem wünsche ich mir, dass sie einsieht, wie sie spricht und sich verhält und dass das weder normal noch akzeptabel in einer Familie ist. Was wirklich verletzt, ist, dass sie nach einem großen Drama – in dem wir als inkompetente und egoistische Idioten hingestellt werden – so tut, als wäre nichts geschehen und alles wieder okay ist. So funktioniert das jedoch in meiner Welt nicht.

Warten auf Entschuldigung

Das Mindeste, worum ich sie bitten könnte, wäre eine Entschuldigung. Das habe ich einmal versucht und wurde sofort eines Besseren belehrt.

In so anstrengenden Zeiten habe ich keine Lust, meine Eltern zu besuchen. Ich habe versucht, meiner Mutter den Grund zu erklären, aber ich kann sie nicht erreichen. Ich bin so traurig und energielos, dass ich irgendwohin auswandern könnte, um dort nicht mehr darüber nachdenken zu müssen.

Auch mein Bruder und mein Vater empfinden die Situation gleich. Ich hatte bereits therapeutische Hilfe. Trotzdem glaube ich, dass ich mit meiner Mutter gemeinsam ein Gespräch bei einem Therapeuten brauche, um die Beziehung zu ihr zu verändern. Es sitzt so tief und es ist so anstrengend, dass wir beide allein zu keiner Lösung kommen würden. Haben Sie einen Rat für eine alleingelassene und müde Frau?

Antwort:

Ihre Geschichte erinnert mich an eine Begegnung einer jungen, kooperationswilligen, flexiblen, zurückhaltenden Tochter mit einer egozentrischen, unsensiblen und einsamen Mutter, die sich nicht mit sich selbst auseinandersetzen wollte und konnte.

Ihre Mutter wurde nicht so geboren! Ihr Verhalten ist das Ergebnis ihrer Erfahrung und Beziehung zu ihren eigenen Eltern und auch zu ihrem Mann bis heute, wo sie nun den ihr nahestehenden Menschen auf die Nerven geht.

Ihr Wunsch, sie durch Ihr Verhalten als Tochter zu beeinflussen, hat sich als ineffektiv erwiesen, und Ihre Vorstellung, dass eine Therapie helfen würde (auch dem Verhalten Ihrer Mutter), ist eher hoffnungslos, kann aber natürlich in Betracht gezogen werden.

Mein Rat diesbezüglich ist, dass Sie Ihre Mutter dazu einladen oder es ihr überlassen, ob sie das machen möchte, und wenn ja, Sie sich die Kosten teilen.

Starker Elternmythos

In unserer Kultur existieren ein starker Elternmythos und eine lange Tradition, zu glauben, dass es eine nahe und harmonische Beziehung zwischen Eltern und deren erwachsenen Kindern geben sollte. Das ist die Moral einer Kultur, die jedoch statistisch gesehen stark von der Realität abweicht. Ihn Wahrheit verhält es sich so, dass es sehr viele Konflikte wie jene in Ihrer Familie gibt.

In diesen ist es ganz normal, dass sich alle Parteien über den jeweils anderen beschweren – entweder direkt oder über Dritte –, und niemand denkt daran, dass es anders sein könnte oder sollte.

Sie sind anders – vielleicht weil Sie bereits die Freiheit und den Mut, den Schmerz zu ertragen, ausprobiert haben. Deshalb müssen Sie etwas unternehmen. Die Wahrheit ist, dass unser Verhalten immer von der Beziehung beeinflusst wird, die wir gerade haben, oder ein Teil davon sind. So liegt die einzige Hoffnung darin, die Art der Beziehung zu verändern oder sie zu verlassen. In einer liebevollen Beziehung braucht es einen fürsorglichen Abnabelungsprozess, denn hier können wir nicht einfach aufstehen und uns verabschieden.

Keine Anklageschrift

Ungeachtet dessen, ob Sie therapeutische Hilfe in Anspruch nehmen oder auch nicht, würde ich deshalb vorschlagen, dass Sie damit beginnen, Ihre eigene Erfahrung in Bezug auf Ihre Mutter zu beschreiben. Schreiben Sie so wenig wie möglich darüber, was Ihre Mutter tut oder nicht tut, und so viel möglich darüber, wie gut und auch wie schlecht es war und noch ist, sie als Mutter zu haben.

Das soll keine Anklageschrift werden, sondern eine letzte Gelegenheit für Ihre Mutter sein, sich darüber Gedanken zu machen, welche Tochter sie in Wirklichkeit hat.

Auch wenn Sie sie diese Zeilen niemals lesen lassen, so wird der Prozess des Schreibens Ihren Teil der Beziehung verändern.

Jegliche Versuche, Ihre Mutter zu verändern, sind hoffnungslos. Nicht weil Ihre Mutter zwangsläufig ein hoffnungsloser Fall ist, sondern weil sich niemand nur verändert, weil wir glauben, er oder sie sollte es tun.

Dann liegt es ganz an Ihnen, Verantwortung für Ihr eigenes Leben zu übernehmen. Genau hier findet sich der Teil der Ironie und Komplexität unserer Beziehung zu unseren Eltern. Über uns lernen wir sowohl durch das, was wir von unseren Eltern bekommen, als auch durch das, was wir nicht bekommen.

Ein Leben als Opfer

Wir müssen uns selbst mit dem versorgen, was wir nicht bekommen, und schlechte Rollenbilder durch neue ersetzten.

Ein Leben als Opfer ist ein schlechtes Leben, das Sie verlassen können. Das kostet seinen Preis, aber es zahlt sich aus. Es ist würdevoller, einen Preis zu bezahlen, den ich selbst bestimme, als sich der Tyrannei einer Mutter, eines Vaters, eines Partners, eines Freundes oder eines Kindes zu unterwerfen.

Tyrannen können nur so lange existieren, solange es jemanden gibt, der ihnen erlaubt, sie zu unterdrücken.

Ich hoffe, dass Ihre Geschichte viele junge Eltern lesen und es bei ihnen bewirkt, die Kontrolle zu verringern und überflüssige Serviceleistungen wie auch aufgezwungene Fürsorge einzustellen und stattdessen darüber nachzudenken, welche Art von Beziehung sie zu ihren Kindern haben möchten, wenn diese erwachsen sind. Es wäre besonders schön, wenn dadurch Vätern bewusst wird, welche Konsequenzen ihre geistige Bequemlichkeit auf lange Sicht für ihre Kinder bedeutet. (Jesper Juul, derStandard.at, 5.10.2014)

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