Freitag, 27 Juli 2018

Kolumne: Eine Familie am Abgrund

Über die Ohnmacht der Kinder im "gelobten" Land

Frage:


Ich bin 20, mein Bruder ist 18 Jahre alt. Wir leben beide noch bei den Eltern. Doch zu Hause ist es nicht mehr auszuhalten. Ich schreibe Ihnen, weil ich nicht mehr weiterweiß und dringend Hilfe benötige.

Meine Eltern reden seit Monaten nicht mehr miteinander und kommunizieren nur noch über uns. Ich weiß nicht, was ich tun soll.

Mein Vater ist immer schon ein komischer Mensch gewesen. Er redet nicht viel, eigentlich fast kaum mit einem von uns. Er arbeitet drei Tage in der Woche (40 Stunden) und hat die restlichen vier Tage der Woche frei. Wenn er die vier Tage zu Hause ist, hängt er von sieben Uhr früh bis zum Abend durchgehend am Laptop und spielt Texas-Poker auf Facebook. Kaum zu glauben, aber wahr.

Er war immer schon ein Typ, der nicht viel redet. Leute ignorieren ihn einfach, weil er immer gegen irgendjemanden etwas zu meckern hat und an jedem einen Fehler findet - und er mit gar keinem Menschen auf der Welt klarkommt. Ich weiß nicht, woran das liegt.

Es nervt einfach, dass keiner von unseren Verwandten zu Besuch kommen will, weil alle wissen, welch ein komischer Typ er ist. Er kommuniziert kaum mit Familienmitgliedern. Er steckt niemals Geld in die Familie, in den Haushalt. Das macht alles unsere Mama. Sie sorgt dafür, dass es uns gut geht, dass wir immer etwas im Kühlschrank haben, dass wir etwas anzuziehen haben etc.

Kein Geld

Er hat sich nie richtig um uns gekümmert und uns nie Geld gegeben. Ich kann mich jedenfalls nicht daran erinnern, als Kleinkind zwei Euro von ihm bekommen zu haben, um mir ein Eis zu kaufen. Leider. Er übt immer Kritik an uns und hat immer etwas an mir und meinem Bruder auszusetzen.

Mein Bruder ignoriert ihn schon seit ein paar Monaten, und die beiden reden nichts miteinander. Wenn mein Vater abends nach Hause kommt, geht mein Bruder ihm aus dem Weg und geht ins Kinderzimmer. 

Ich bemühe mich trotzdem immer, Kontakt mit meinem Vater aufzunehmen, damit er wenigstens ein bisschen mit jemandem redet und nicht immer nur am Laptop hängt und Poker spielt.

Eines ist noch zu erwähnen: Immer, wenn wir auf Urlaub sind, in Kroatien bei den Großeltern, ist mein Vater ein richtiger Vater, einfach so, wie es sich gehört. Dann passt ihm alles, dann streitet er mit niemandem, dann ist er lieb zu Mama und hat Spaß.

Antwort:
Ich habe ziemlich viele Familien wie die deine getroffen und auch mit einigen so mutigen Töchtern wie dir gesprochen.

Dein Vater leidet am "Auswanderer-Trübsinn", der sich über die Jahre in eine Art existenzielle Depression verwandelt hat. Er kann zur Arbeit gehen und bleibt dem Alkohol fern. Er hat allerdings seine Identität und seine Grundlage verloren. Dabei wurde ihm klar, dass ein Lebensstandard nicht alles bedeutet.

Wahrscheinlich sind seine Verwandten so sehr damit beschäftigt, ihm immer wieder zu sagen, welch ein Glückspilz er ist, dass es ihm nie gelingt, ihnen zu sagen, wie schlecht es ihm damit geht, im "gelobten Land" zu leben, in dem er sich nicht als Person und noch weniger als Mann fühlt. Er verspürt einen tiefen, existenziellen Schmerz.

Ein besseres Leben

Ich kenne die Geschichte eurer Familie nicht, meine Vermutung ist, dass deine Eltern beschlossen haben, in Österreich zu bleiben, um dir und deinem Bruder eine bessere Ausbildung und ein besseres Leben zu bieten, das ihr in Kroatien vielleicht nicht gehabt hättet.

Seine Entscheidung, ein guter Vater zu sein, bedeutete, sein eigenes Leben zu opfern – womöglich auch angeregt durch seine Frau?

Mein möglichst kurz gefasster Rat ist, ihn gehen zu lassen und ihm für seine immens großen Bemühungen zu danken. Du und dein Bruder, ihr könnt in Österreich bleiben und nach Möglichkeiten suchen, alleine für euch zu sorgen. Aber sagt euren Eltern, dass sie nun frei sind, um glücklich zu sein.

Ich weiß, das mag nicht leicht für euch und eure Eltern sein. Allerdings war das Leben für euch alle über eine lange Zeit hinweg sehr schwierig. Es ist nun der Moment gekommen, dass ihr die Sache anpackt und erwachsen werden müsst.

Familientreffen einberufen

Nimm dir Zeit, darüber nachzudenken, zeige diesen Brief deinem Bruder. Sobald ihr euch bereit fühlt, bittet ihr eure Eltern um ein Familientreffen an einem Sonntag nach dem Mittagessen. Danach seht einfach weiter.

Du machst dich auf den Weg gegen eine Kultur, die sich entweder über das persönliche Unglück beschwert oder gänzlich über den persönlichen Schmerz schweigt. In anderen Worten ausgedrückt, bist du eine mutige Pionierin.

Deine Mutter wird unglücklich sein, und dein Vater wird sich hinter dem Laptop verstecken. Das können sie ruhig tun, aber versucht es am nächsten Sonntag wieder. Gib deinem Vater einen sanften Stups – er hat beinahe all seine Würde verloren und kaum Worte für seinen Schmerz.

Der kürzeste Weg zu seinem Herzen könnte folgender sein: "Tata, über so viele Jahre habe ich dich als Vater vermisst. Ich war sehr böse auf dich, und Mama tat mir sehr leid. Ich wusste nicht mehr, was ich tun sollte, deshalb habe ich einem Mann geschrieben. Hier ist, was ich geschrieben habe, und das ist seine Antwort. Bitte lies es und sag mir, ob er unrecht hat." Gib auch deiner Mutter mein Schreiben. (Jesper Juul, derStandard.at, 24.8.2014)

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